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CRESPI D’ADDA

icona patrimonio sito UNESCO
WELTKULTURERBE
DOSSIER UNESCO: 730
VERLEIHUNGSSTADT: BERLIN, DEUTSCHLAND
VERLEIHUNGSJAHR: 1995
BEGRÜNDUNG: Crespi d‘Adda ist ein außergewöhnliches Beispiel für das Phänomen des „Arbeiterdorfs“, das zwischen dem 19. und dem frühen 20. Jh. in Europa und Nordamerika weit verbreitet war und Ausdruck der vorherrschenden Philosophie aufgeklärter Industrieller in Bezug auf die Beziehungen, die sie zu ihren Mitarbeitern aufbauen wollten, war.

„Die Zukunft beginnt dort. Keiner weiß genau, wie
sie wird. Solche behaupten, es werde besser, solche
bleiben skeptisch, und solche äußern sich nicht. Eine
prophezeit: ‚Es wird Arbeit für alle geben, ein ganzes
Jahr lang‘, und trinkt.“

Al di qua del fiume, Alessandra Selmi

Das Arbeiterdorf Crespi d‘Adda in der bergamaskischen Gemeinde Capriate San Gervasio ist eines der besten Beispiele für die Industriekultur Europas. Es entstand Ende des 19. Jhs. aus einer unternehmerischen Vision und einem Traum heraus und verkörpert den Versuch, ein „ideales Arbeitsdorf“ zu schaffen. Noch heute kann man das Dorf mit all seinen Innovationen besichtigen: die Baumwollspinnerei mit ihren riesigen Schornsteinen, das Herrenhaus, die Kirche, die Häuser der Arbeiter und der höheren Angestellten, das des Arztes und des Pfarrers, die Schule und den Friedhof. Die erste Fabrik entstand 1878 in der Gegend von Bergamo. Auf dem Gebiet gab es Wälder und Weiden. Es gab viel Wasser und die Bevölkerung war noch bäuerlich geprägt. Hier gründete der Unternehmer Cristoforo Benigno Crespi eine Baumwollspinnerei, deren Maschinen durch das Wasser der Adda angetrieben wurden. Der Transport der Waren nach Mailand erfolgte über den Naviglio della Martesana. Es war eine moderne Fabrik, die in zwei Abteilungen für Spinnerei und Zwirnerei aufgeteilt war und auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung über 1.200 mechanische Webstühle verfügte, bis zu 4.000 Arbeiter beschäftigte und täglich 50.000 m Stoff produzierte. Der entscheidende Schritt zur Entstehung einer idealen Industriestadt war die Schaffung des Arbeiterdorfs, das jedoch nicht nur aus Häusern für die Arbeiter bestand, sondern im Laufe der Jahre um wichtige Einrichtungen wie Schule, Konsumgenossenschaft, Krankenhaus, Kirche und Friedhof erweitert wurde: eine Gemeinschaftsutopie, die durch die tiefgreifenden Veränderungen der Industrie seit den 30er Jahren nach und nach untergraben wurde, bis sie 2003 endgültig geschlossen wurde.

NICHT ZU VERPASSEN

„Auf keinen Fall durften die Mitarbeiter sich selbst überlassen werden und Zeit haben, nicht einmal gleichzeitig und zusammen.“

Dies schreibt Ulderico Bernardi in der Ricerca sociologica sul villaggio operaio di Crespi d’Adda, veröffentlicht in Villaggi operai in Italia. La Val Padana e Crespi d‘Adda. Mit seinem orthogonalen Grundriss ist Crespi d‘Adda ein Vorbild für städtische Rationalität. Corso Manzoni teilt die Stadt in zwei Hälften und trennt deutlich den Wohn- vom Arbeitsbereich.
Google Maps
Die
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Textilfabrik, die an ihrem hohen Schornstein zu erkennen ist, ist den fortschrittlichsten angelsächsischen Vorbildern nachempfunden, mit Oberlichtdächern, die große Hallen aus gusseisernen Strukturen beleuchten. Der Haupteingang ist mit roten schmiedeeisernen Toren geschmückt, einem Jugendstilwerk von Alessandro Mazzucotelli, das nicht die einzige Dekoration ist. Auf dem Komplex sind auch mittelalterlich anmutende Terrakotta-Friese zu sehen. Der Grundgedanke des gesamten Dorfes basiert auf einer mit Eleganz verbundenen Funktionalität. Zu diesem Zweck griffen der Gründer und seine Erben auf große Architekten und Ingenieure zurück: Angelo Colla, Ernesto Pirovano, Gaetano Moretti und Pietro Brunati. Im
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Arbeiterdorf sind mehrere Wohntheorien vereinigt: Von den ersten kleinen Gebäuden am Eingang des Dorfes (dreistöckig und für 12 Familien geeignet) bis hin zu den Ein- und Zweifamilienhäusern, die deutlich luftiger und gesünder sind und den fortschrittlichen Visionen der Unternehmer, insbesondere von Silvio Benigno Crespi, dem Sohn des Gründers, entsprechen. Einige verfügen über einen einzigen Eingang mit einer Treppe, die in das Obergeschoss führt, andere haben zwei getrennte Eingänge. Die Küche und ein Wohnzimmer befinden sich im Erdgeschoss, die Schlafzimmer im Obergeschoss. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die Häuser für Angestellte und Leiter sowie die noch prächtigeren, von Grünanlagen umgebenen Häuser für die Führungskräfte. In diesem Umfeld stehen zwei große Gebäude: Das eine ist die Schule (in einem Stockwerk befanden sich die Klassenzimmer und im anderen die Lehrerwohnungen) mit einem Theater und später auch mit einem Kino. Der Schulbesuch war bis zur dritten Klasse kostenlos. Beim anderen Gebäude handelt es sich um die im eklektizistischen Baustil gebaute
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Villa Crespi. Hier werden die für das norditalienische Mittelalter typischen Materialien und Ornamente neu gemischt, vom Backstein bis zu den Zinnen. Die
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Kirche ist das Kleinformat der Wallfahrtskirche Santa Maria di Piazza in Busto Arsizio, dem Heimatort des Gründers. Dort wurde täglich vor der Arbeit um 6.30 Uhr eine Messe abgehalten. Die letzte Etappe ist der
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Friedhof am Ortsausgang mit dem Mausoleum der Familie Crespi, ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Stilarten.

„Bis vor einigen Jahren folgte man dem System, große, mehrstöckige Häuser zu bauen, die zehn bis zwanzig Familien beherbergen konnten: das war ein Fehler. Es wurden keine Häuser, sondern Kasernen gebaut, in denen das Geschrei der Kinder, der Tratsch der Frauen und Lärm aller Art ständig die für die Erholung notwendige Ruhe störten, und das Leben war fast gemeinschaftlich, und die Nähe der Familien führte zu Unzufriedenheit, die in Streitereien oder Schlägereien endete. Der Industrielle sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass er sich mit einem solchen Bausystem eine treue Belegschaft schaffen kann [...]. Das Musterhaus des Arbeiters muss eine einzige Familie beherbergen und von einem kleinen Garten umgeben sein, der von jeglicher Gemeinschaft mit anderen abgeschnitten ist.“

aus einem Bericht von Silvio Benigno Crespi, 1894

In der Arbeitersiedlung, die aus einer Reihe schachbrettartig angeordneter Ziegelgebäuden bestand, hatte jedes Haus einen Gemüsegarten und ein Schutzmaßnahmensystem für die angestellten Bewohner. Es war das Werk eines aufgeklärten Unternehmertums, heute stellt dieses Werk ein Gegenmittel zum ungezügelten Wettbewerb der heutigen Manager dar.

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FÜR DIE JÜNGSTEN

„KEINE GRIECHISCHEN VASEN, PRÄHISTORISCHEN SKELETTE ODER RÖMISCHER SCHMUCK: INDUSTRIEARCHÄOLOGIE IST DIE DISZIPLIN, DIE GEBÄUDE, MASCHINEN UND TECHNOLOGIEN AUS DER ZEIT DER INDUSTRIELLEN REVOLUTION UNTERSUCHT, DIE SICH IM 19. UND 20. JH. ENTWICKELTE. DIESES GEBIET UM BERGAMO IST BESONDERS REICH DARAN.“
attività per bambini del sito UNESCO nr. 12
Das
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Arbeiterdorf in Crespi d‘Adda war eine autarke Mikrowelt. Die Entstehung dieser „idealen Stadt“ geht auf das Ende des 19. Jhs. zurück und ist dem Unternehmer Cristoforo Benigno Crespi zu verdanken, der nicht nur eine produktive, hochmoderne Baumwollfabrik errichten ließ, sondern für seine Arbeitskräfte auch die bestmöglichen Lebensbedingungen wollte. Aus diesem Grund entstand direkt gegenüber der Fabrik ein Dorf mit kleinen, zweistöckigen Häusern, die alle gleich aussahen: Die Arbeiter mussten keine langen Wege mehr von ihren Dörfern zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen und konnten sich besser auf ihre Arbeit konzentrieren. Nach und nach wurde das Dorf mit allen notwendigen Gemeinschaftseinrichtungen ausgestattet. Es gab eine Kirche und eine villa, die an eine mittelalterliche Burg erinnerte und in der die Unternehmer Crespi für kurze Zeit wohnten. Besucht auch die Schule: Im unteren Stockwerk befanden sich die Klassenzimmer, im oberen Stockwerk die Lehrerwohnungen. Die Schule ging bis zur dritten Grundschulklasse, dann musste man nach Bergamo ziehen, doch immer auf Kosten der Firma. Wenn Ihr Euch fragt, wie eine so große Fabrik funktionierte, müssen wir zum Wasserkraftwerk mit seiner riesigen Turbine gehen. Ihre Aufgabe ist es, die Maschinen zu bewegen. Ein paar Kilometer weiter entdecken wir dann ein weiteres Wunderwerk der Industriearchäologie: das
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Wasserkraftwerk Taccani Der Architekt Gaetano Moretti schuf nochmals für Cristoforo Benigno Crespi ein märchenhaftes Bauwerk, das sich mit den Ruinen der mittelalterlichen Burg von Trezzo sull‘Adda in die natürliche Flusslandschaft einfügt. Nun folgen wir dem Lauf der Adda in Richtung Norden nach Imbersago, wo ein weiteres Abenteuer auf uns wartet. Wir besteigen die
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Leonardo Fähre Leonardo da Vinci erfand das Boot zwar nicht, doch hat er es während seines langen Aufenthalts in dieser Gegend sicherlich eingehend studiert. Für den Betrieb der Fähre, die Imbersago mit Villa dʼAdda verbindet, ist nicht die Kraft vieler Männer notwendig, geschweige denn Treibstoff, sondern lediglich die Strömung des Flusses, ein Kabel und einige Physikkenntnisse. Ein ausgesprochen ökologisches Transportmittel!
sito UNESCO nr. 12 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen, um die Stätte der Industriekultur zu erkunden

  • Villaggi operai in Italia. La Val Padana e Crespi d’Adda (1981). Eine der umfassendsten wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem Thema, die sich mit der Entstehung von Arbeiterdörfern in Europa und in Italien während des 19. Jhs. befasst, mit spannenden soziologischen Untersuchungen über das Dorf Crespi.
  • Silvio Benigni Crespi. L’uomo, il politico, l’imprenditore, Cristian Bonomi, Giorgio Ravasio, Luigi Cortesi (2018). In diesem Sammelband taucht die interessante Persönlichkeit von Silvio Benigno Crespi auf, ältester Sohn des Fabrikgründers, aufgeklärter Unternehmer und späterer Senator und Präsident der Banca Commerciale.
  • Al di qua del fiume, Alessandra Selmi (2022). Hierbei handelt es sich um einen historischen und einhelligen Roman über die Utopie, die von Cristoforo begonnen und von Silvio Crespi fortgesetzt wurde. Er förderte zusammen mit Olivetti auch die Schönheit im Bereich der Produktion. In dieser Mikrowelt vereint sie das gemeinschaftliche Gefühl von Würde und Fortschritt: Eigenschaften, an denen es auch in den schwierigsten Zeiten der Geschichte der Baumwollproduktion nicht mangelt.
  • Crespi d’Adda, Giorgio Ravasio (2023). Der Untertitel „Die Stadt der gewinnbringenden Arbeit, soziale Utopie und architektonische Metapher“ verdeutlicht die Absicht dieses Bandes: Eine Reise in die heute immer noch aktuelle Thematik der „Religion der Arbeit“ und eine Chronik vom Aufstieg eines Traums und dem Niedergang eines Ziels. Der Autor ist einer der führenden Experten auf diesem Gebiet.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • La fabbrica delle favole, Gisella Laterza (2024). Das Dorf aus der Sicht eines Kindes des frühen 20. Jhs. Auch das Leben der Kinder ist von der harten Fabrikarbeit und den prekären sozialen Verhältnissen betroffen. Doch die Hauptfigur verwandelt mit ihrer Fantasie alles in zauberhafte Figuren und Situationen. Die Erzählung wird so für die Kinder zu einem Anker, an den sie sich klammern können, um die Realität auf eine Ebene zu bringen, auf der sie mit ihr umgehen können.
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