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DIE ALTSTADT VON PIENZA

icona patrimonio sito UNESCO
WELTKULTURERBE
DOSSIER UNESCO: 789
VERLEIHUNGSSTADT: MÉRIDA, MEXIKO
VERLEIHUNGSJAHR: 1996
BEGRÜNDUNG: Pienza nimmt in der Entwicklung des Konzepts der geplanten „Idealstadt“ eine Schlüsselrolle ein. Hier wurde das erste humanistische Stadtplanungskonzept der Renaissance angewendet.

„Pienza war so, wie er es sich vorgestellt hatte:
Ein steinerner Diamant auf einem der höchsten
Hügel des Val d’Orcia, und, wie der Reiseführer
sagte, war es Ende des 15. Jh. nur ein mittelalterlicher
Weiler namens Corsignano.“

Il Fosso Bianco, Miriam Focili

Bis zum späten Mittelalter hatte sich das Schicksal dieses kleinen, im Val dʼOrcia gelegenen Dorfes noch nicht mit dem seiner Zentralfigur – einem Mann, der dessen Identität so tiefgreifend verändern und sogar dessen Namen annehmen sollte – gekreuzt. Enea Silvio Piccolomini wurde 1405 geboren und entsammte einer alten Familie aus Siena. Er war Dichter, reiste, schrieb erotische Gedichte, war außerdem der Autor der berühmten Commentarii, Priester und Politiker und verkörperte auf vielfältige Art und Weise die Dichte und die intellektuelle Leidenschaft des Humanismus. Im Jahr 1458 wurde er zum Papst gewählt und nannte sich fortan Pius II. Sein Geburtsort, Corsignano,wurde wenig später nach ihm in Anlehnung an den Papstnamen des berühmten Sohnes der Stadt Pienza genannt. Die Stadt hatte nicht nur einen neuen Namen, sondern stand insbesondere auch für die Umsetzung eines ethischen und ästhetischen Ideals, nämlich dem der geplanten Stadt. Der neue Papst beabsichtigte, die Altstadt umzugestalten und die futuristische Utopie einer rational geplanten Stadt zu verwirklichen. Hierzu beauftragte er den Architekten Bernardo Rossellino, Schüler des Leon Battista Albert. Mit der Neugestaltung des Hauptplatzes von Pienza gelang es den beiden Männern, die mittelalterliche Architektur in eine Architektur der Renaissance umzuwandeln. Damit leisteten sie einen nachhaltigen Beitrag zur Geschichte der modernen Stadtplanung.

NICHT ZU VERPASSEN

„Wer von Siena aus nach Rom fährt, kommt nach der Burg San Quirico und rechts von Radicofani an Corsignano vorbei, das oben auf dem Hügel auf der linken Seite zu sehen ist, auf der Spitze eines sanften Abhangs, drei Meilen von der Hauptstraße entfernt.“

Piccolominis Blick, der in seinem Werk Commentarii gewissermaßen aus der Vogelperspektive über die Toskana schweift, lädt dazu ein, die Umgebung Pienzas im Herzen des Val d’Orcia – ebenfalls UNESCO Welterbe – zu erkunden. Am besten besichtigt man sie in aller Ruhe und gönnt sich dabei Pausen, um die Aussicht zu genießen, das historische Erbe zu erkunden und sich dabei etwas zu entspannen.
Google Maps
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San Casciano dei Bagni ist ein guter Startpunkt. Auch wenn es nicht gut ist, Reiseranglisten aufzustellen, so kann man dennoch sagen, dass die Thermen von San Casciano dei Bagni zu den schönsten der Toskana gehören. Die 42 Quellen mit einer Wassertemperatur von 40°C wurden bereits von den Etruskern besucht und waren während der römischen Antike von zentraler Bedeutung, wie die archäologischen Überreste des Thermalheiligtums bezeugen. Von San Casciano fahren wir auf der Via Francigena in Richtung
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Radicofani, wo eine schöne Burg steht. Diese wurde in Höhe von 896 m auf einem Basaltfelsen erbaut und beherrscht mit ihrem gedrungenen Bergfried nicht nur das darunter liegende Dorf, sondern das gesamte Val d’Orcia, den Monte Cetona und das Gebiet des Monte Amiata. Weiter geht es nach
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Chiusi, in der Antike eines der wichtigsten Zentren Etruriens. Heute bietet es Kultur auf hohem Niveau. Das Achäologische Nationalmuseum in Chiusi ist eine Reise wert. Hier kann man eine Sammlung von Artefakten besichtigen, die in der Stadt gefunden wurden und vom Leben, der Kunst und der Kultur der damaligen Zeit erzählen. Das Dom-Museum beherbergt hingegen Werke aus der frühchristlichen, mittelalterlichen und modernen Zeit. Vom Museum aus kommt man zum Labyrinth von Porsenna, eine 130 Meter lange Strecke mit einem verschlungenen Stollensystem des etruskischen Wasserkomplexes. Die nächste Etappe ist
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Montepulciano. Dieses auf einem felsigen Gebirgskamm gelegene Dorf zwischen der Valdichiana Senese und dem Val d’Orcia ist für seinen mit der Güteklasse DOGC ausgezeichneten Wein bekannt, der aus der Rebsorte Sangiovese – Prugnolo Gentile genannt – gewonnen wird und zu den beliebtesten Weinen Italiens gehört. Neben den allgegenwärtigen Önotheken gibt es in der Stadt sehr bedeutende historische und architektonische Zeugnisse. Auf der Piazza Grande legen wir einen Pflichtstopp beim Pozzo dei Grifi e dei Leoni ein und stellen uns vor, wie die Fassade des Doms Santa Maria Assunta aussehen würde, wenn deren Bau ab dem 16. Jh. nicht unvollendet geblieben wäre. Von hier kommt man sehr leicht nach
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Pienza, wo wir einen ausgezeichneten Pecorino kosten und uns an den Gebäuden aus der Renaissance sattsehen können.

„Wegen der Notwendigkeit neigt sich
[die Kirche], entgegen der Gewohnheit,
von Norden her gegen Mittag.“

Commentarii (IX, 24), Enea Silvio Piccolomini

Um aus architektonischer Hinsicht eine ideale Stadt zu werden, musste Pienza nach Ansicht von Papst Pius II. und dessen Architekten Bernardo Rossellino dies auch in astronomischer Hinsicht sein. Besteigt man im Palazzo Comunale am 1. April um 13:20 Uhr den Turm, kann man sehen, wie die Fassade des Domes einen Schatten wirft, der perfekt in die neun Rechtecke auf dem Kirchplatz passt. Es scheint, als ob Papst Pius II., ganz so, wie es in den Commentarii zu lesen ist, ganz bewusst auf die für kirchliche Gebäude vorgeschriebene kanonische Ausrichtung – diese mussten „orientiert“, daß heißt nach Osten hin ausgerichtet sein – verzichtete, um den Dom in eine große Sonnenuhr zu verwandeln, mit der die FrühlingsTagundnachtgleiche gefeiert wird, nämlich dem das Osterfest bestimmende Datum. Der Steinring auf dem Kirchplatz ist symbolisch mit der Fensterrose verbunden: oben der Lichtring, das sehende Auge – das Gute; unten der Steinring, das nicht sehende Auge – das Böse. Das Ereignis findet heute am 1. April und nicht am 21. März statt. Grund dafür ist das Inkrafttreten des Gregorianischen Kalenders 1582, mittels dessen der Fehler der 11 Tage korrigiert wurde, die sich im Laufe der Jahrtausende aufgrund der Umlaufzeit der Erde um die Sonne angesammelt hatten, welche nicht genau 365 Tage, sondern 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden beträgt.

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Die italienischen UNESCO-Welterbestätten erzählen ihre Geschichte durch die Worte großer Schriftsteller, die ihre Geschichte und Schönheit gefeiert haben

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FÜR DIE JÜNGSTEN

ES GAB ZWEI REIHEN VON FENSTERN, BEWUNDERNSWERT IN FORM UND BREITE, UND JEDE REIHE BESTAND AUS DREIUNDZWANZIG FENSTERN IN GLEICHEM ABSTAND VONEINANDER. AUS JEDEM DER FENSTER, [...] KONNTEN DREI PERSONEN GLEICHZEITIG HINAUSSCHAUEN [...].
attività per bambini del sito UNESCO nr. 17
Mit diesen Worten beschreibt Pius II. in seinen Commentaries einen Teil der päpstlichen Residenz im Dorf: Es sind die Details, die die Aufmerksamkeit des Reisenden erwecken. Gleich werdet Ihr bemerken, dass der Platz sehr klein ist, jedoch ausgesprochen bedeutende Gebäude hat. Alles dreht sich um die trapezförmige
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Piazza Pio II, wo der Dom (auf der längeren Seite) beziehungsweise die Kathedrale Santa Maria Assunta thront. Die Kathedrale wurde von dem Architekten Bernardo Rosselino entworfen und 1462 geweiht. Man erkennt sie an ihrer in drei Teile geteilten Fassade aus Travertin. Im lichtdurchfluteten Innenraum vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart, das Erbe der Gotik mit den neuesten Renaissancestilen. Im Dickicht der Säulen könnt Ihr die von den berühmtesten sienesischen Malern der damaligen Zeit gemalten Tafeln, die Marmorstelen sowie die in den Boden und die Wände eingelassenen Grabsteine entdecken. Neben dem Dom seht Ihr die
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Chiesa di San Giovanni (oder die Krypta des Doms). Eine kleine Tür auf der linken Seite der Kathedrale führt zu einem unterirdischen Raum, in dem man zwischen den Überresten des Skulpturenschmucks der alten Kirche und einer Reihe flämischer Wandteppiche umherwandern kann. Von hier aus kommen wir auch zum „Labyrinth“, einem System von Entwässerungstunneln, das unter der Apsis der Kathedrale gegraben wurde, um die Senkungsprobleme des darüber liegenden Bauwerks zu bekämpfen: Heute ist es ein kleines Juwel, bei dem dem Betrachter Geschichten von Schlössern und Prinzessinnen in den Sinn kommen.
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Palazzo Piccolomini, die Residenz des Papstes und seiner Familie, befindet sich rechts von der Kathedrale: Man erkennt ihn leicht an seiner rustikalen Fassade aus Pietra Viva-Bossenquadern. Ihre strenge und schlichte Gestaltung stehen im Kontrast zum Prunk der Innenräume. Rossellino ließ sich bei seinem Entwurf bewusst von den Bauten der römischen Vergangenheit und der neuesten Mode der Florentiner Architekten inspirieren. Auf der Rückseite, in der Loggia auf der Südseite des Gebäudes, befindet sich ein herrlicher
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Dachgarten. An schönen Tagen wirkt dieses „Fenster“ wie ein Glücksspender. Gegenüber der Kathedrale steht der
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Palazzo Comunale mit einem dreibogigen Säulengang, der von einem Turm mit einer Terrakotta-Uhr gekrönt wird. Im Palazzo Borgia befindet sich schließlich das
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Diözesanmuseum, in dem man zwischen religiösen Kunstwerken, sakralen Gewändern und kostbaren Goldschmiedearbeiten den Glanz und die Pracht vergangener Zeiten wiedererleben kann.
sito UNESCO nr. 17 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen, um Pienza und seine Umgebung zu erkunden.

  • Commentarii, Enea Silvio Piccolomini (1462–64). Das Meisterwerk von Piccolomini gilt als eines der großen „Denkmäler“ der italienischen Renaissance. Auf halbem Weg zwischen einem Roman und einem anthropologischen Text zeichnet es ein Bild der politischen und religiösen Welt des Europas des 15. Jahrhunderts, in dem die Stadt Pienza ausführlich beschrieben wird.
  • Il Fosso Bianco, Miriam Focili (2019). Eines Morgens im September geht der alkoholabhängige Mechaniker Gualtiero Vanni nach Fosso Bianco, um ein heißes Bad in den Thermalbädern zu nehmen. Dort trifft er auf ein attraktives Mädchen, das allein im Wasser ist: ein blonder, blutüberströmter Engel, der sich weder an sich selbst noch an seine Vergangenheit erinnern kann. Die Ermittlungen werden für die beiden Polizistinnen, Elena und Giada, nicht leicht sein.
  • Il campo di Gosto, Anna Luisa Pignatelli (2023). Dieser Roman erzählt die Geschichte von Agostino, genannt Gosto. Er ist geschieden, mit einer Tochter, die nur an Geld denkt, und ist von bösen Menschen umgeben. Abwechselnd werden die schönen Landschaften des Val dʼOrcia und die dort lebenden Menschen mit ihren dunklen Seiten beschrieben.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • Il Rinascimento per gioco, Valentina Orlando, Celina Elmi (2018). Pienza und sein „Schöpfer“, Enea Silvio Piccolomini, beeinflussen den Geist der Stadt. Mit den Augen der jungen Archäologin Clara können die Kinder die in der Renaissance gelebte Neugierde nacherleben.
  • Stella Bianca. La ragazza che parla ai cavalli, Mathilde Bonetti (2019). Der verhängnisvolle Funke springt beim Wohltätigkeitsfischen des Festivals von Pienza über, bei dem die junge Irin Crystal, die gerade erst in Italien angekommen ist, Stella Bianca, ein prächtiges Fohlen, gewinnt. Dies ist der erste Roman einer Serie, in der es um den Mut des gegenseitigen Vertrauens und die Stärke der Freundschaft zwischen Mensch und Tier geht.
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