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FERRARA, STADT DER RENAISSANCE, UND DAS PO-DELTA

icona patrimonio sito UNESCO
WELTKULTURERBE
DOSSIER UNESCO: 733
VERLEIHUNGSSTADT: BERLIN, DEUTSCHLAND
VERLEIHUNGSJAHR: 1995
BEGRÜNDUNG: Ferrara ist das perfekte Beispiel für eine Stadt, die in der Renaissance entworfen wurde: Eine Siedlung mit einem wohlbehaltenen alten Stadtkern, in dem die Grundsätze einer Stadplanung sichtbar sind, die über Jahrhunderte die Städteentwicklung beeinflusste.

„O du beglückte Stadt, [...] daß wachsend du dereinst
an Ruhm und Glanz Italiens Preis erwirbst und
ersten Kranz.“

Der rasende Roland, Ludovico Ariosto

Vielleicht übertrieb Ariosto aufgrund seiner Heimatliebe, als er sich eine so glanzvolle Zukunft für Ferrara erhoffte. Allerdings stimmt es, dass im Ferrara des 15. Jhs. solche Ambitionen nicht übertrieben waren. Zu jener Zeit nahm die durch die Familie Este regierte Stadt politisch und kulturell die Rolle einer großen Hauptstadt ein. Diese war „durch städtische Erweiterungen“ und Prestige gewachsen. Anfangs war Ferrara nur eine Vorstadt aus byzantinischer Zeit, die im frühen Mittelalter aufblühte. Ferrara wurde nicht entlang einer Straßenachse gebaut, sondern hat die urbane Struktur einer Stadt, die am Meer liegt. Die Fondaco-Häuser befinden sich am damaligen Wasserweg des Po di Volano (in der heutigen Via delle Volte). Ferrara dehnte sich dann nach Norden aus, errichtete von Wassergräben umgebene Kathedralen und Festungen, gründete aber insbesondere neue Stadtteile und eroberte jene Ebene, die man an klaren Tagen vom Torre dei Leoni des Castello di Estense aus sehen kann. Die von Ariosto besungene Größe Ferraras beeindruckt am meisten durch ihre „Ergänzungen“, Nachträge, die der vorherigen urbanen Struktur übergestülpt wurden und ganze Landstriche betrafen, bis sich, wie im Fall der Addizione Erculea, die Fläche der Stadt verdoppelte. Als beispiellose und einzigartige künstlerische und städtebauliche Werkstatt ist Ferrara ein Paradigma der Modernität und des Experimentierens in der Renaissance, eine Stadt, die „das Ansehen und den Stolz“ von ganz Italien verdiente: die „Stadt der Renaissance“ schlechthin.

NICHT ZU VERPASSEN

„Während Du, Ferrara, / Wenn die herzoglichen Häupter in Dir nicht mehr wohnen, / Und stückweise zerbröckelnd Deine leblosen Hallen betrachten, / Ein Dichterkranz deine einzige Krone sein wird...“

In seinen ergreifenden und romantischen Versen stellt sich Lord Byron Ferrara nach dem Untergang des Herzogtums vor. Vielleicht ergaben diese Verse damals mehr Sinn als heute, denn die „leblosen“ Paläste der Stadt sind alles andere als „bröckelnde Ruinen“. Ferrara ist ganz und gar nicht dekadent, sondern lebendig und fröhlich. In den Gassen und auf den Plätzen, in den Trattorien und Geschäften tummeln sich Radfahrer und Fußgänger. Das heutige, moderne Leben findet auf den Straßen statt – vor dem Hintergrund der Palazzi, die die Vergangenheit widerspiegeln. Ferrara ist auch für seine großen und prächtigen Innenräume in den Palazzi bekannt, die von einem hedonistischen und ausschweifenden Leben erzählen.
Google Maps
Der
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Palazzo Schifanoia ist nicht nach einer Familie benannt, sondern verkörpert eine Absicht: nämlich die, die Langeweile zu vertreiben. Von dieser Lebenseinstellung handeln die Fresken des Zyklus der Monate, die den Eindruck erwecken, als wollten die Figuren aus ihnen heraustreten, um sich wieder in den Tanz des Lebens zu reihen. Schaut man nach oben, um die Grotesken der
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Palazzina Marfisa d’Este zu bewundern, sieht man ein Labyrinth winziger Dekorationen. Hier lebte die Tochter des Francesco d‘Este und hielt das Andenken des Herzogtums auch nach dem Übergang Ferraras an den Kirchenstaat aufrecht. Auch um die Decke des Saals Sala del Tesoro im
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Palazzo Costabili – einem prächtigen Renaissanceschloss, das von Biagio Rossetti entworfen wurde und in dem sich das Museo Archeologico Nazionale befindet – zu sehen, müssen wir nach oben schauen. Man hat das Gefühl, aus dem Haus
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Casa Romei, mit seinem schiefen Innenhof und den Überbleibseln der Fresken auf den Wänden, noch immer das Geklapper und Gelächter der Renaissance zu hören, wohingegen die in Bildern festgehaltene Privatsphäre des
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Camerino delle Duchesse mit Blick auf das Castello Estense noch erhalten ist. Es handelte sich hierbei um den Privatraum von Eleonora und Lucrezia d‘Este, den Töchtern des Herzogs Ercole, die über Jahrzehnte fast eingeschlossen am Hofe lebten. Hier machten sich die Schwestern hübsch, wärmten sich im Winter und tauschten ihre Geheimnisse aus.

„Das monumentale Grabmal auf
dem Friedhof: das ist der einzige
Fehler, die einzige (vor allem
geschmackliche) Sünde, die man
Moisè Finzi-Contini vorwerfen
kann. Aber dann halt.“

Die Gärten der Finzi-Contini, Giorgio Bassani

Der jüdische Friedhof in Ferrara, ein Ort der Erinnerung und des Friedens, ein Park der Ruhe und des Gedenkens, ist in gewisser Weise der Garten der Finzi-Contini, denn der Garten im Roman existiert in Wirklichkeit nicht. Hier befindet sich das monumentale Grabmal der Familie, das Bassani im Buch als entsetzlich beschriebt. Der Friedhof ist einer der wichtigsten Orte des Gedenkens an die jüdische Gemeinde der Stadt, die im Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus so viel erleiden musste. Vom Eingang zweigt rechts ein zweiter Weg ab, der zur Leichenhalle führt, die den Opfern der Deportationen gewidmet ist. Die meisten Gräber stammen aus dem 19. und 20. Jh., doch die Geschichte des Friedhofs geht viel weiter zurück. Der älteste Grabstein stammt aus dem Jahr 1549. Urkunden belegen die Existenz des Friedhofs ab 1626 und im östlichen Bereich gibt es einige Gräber aus dem 18. Jh., die während der Inquisition im Jahr 1755 nicht zerstört wurden. Die wenigen Gräber aus dem 18. Jh. befinden sich im östlichen Teil des Friedhofs, jenseits einer großen Rasenfläche. Hier befindet sich in der Nähe der Stadtmauer auch das Grab von Giorgio Bassani, ein literarisches Pilgerziel, das 2003 vom Bildhauer Arnaldo Pomodoro und vom Architekten Piero Sartogo entworfen und gebaut wurde.

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FÜR DIE JÜNGSTEN

„SIE HATTEN IHN AUF EINE DIPLOMATISCHE MISSION NACH VENEDIG GESCHICKT, UND AUF DEM RÜCKWEG WAR ER KRANK GEWORDEN. ‚DIESE VERDAMMTEN SÜMPFE‘, DACHTE ER. ABER WENIGSTENS WAR SEINE ARBEIT BEENDET.“
attività per bambini del sito UNESCO nr. 13
Genau. Sein Werk war fertiggestellt. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätten wir das wichtigste Meisterwerk italienischer Literatur – die Göttliche Komödie .von Dante Alighieri – nicht lesen können. Dante, ein „stolzer, ehrgeiziger, höhnischer“ Mensch, wie der Titel des Buches von Paola Cantatore und Alessandro Vincenzi ihn beschreibt, starb infolge eines Mückenstichs, den er sich im Sumpf des Po-Deltas in der Nähe der Abtei Pomposa zugezogen hatte, an Malaria, kurz nachdem er das Paradies geschrieben hatte. Dort endete sein Lebensweg, und dort endet auch unsere Tour, wenn auch (hoffentlich) auf weniger tragische Weise. Wie wenn wir aus einem Traum erwachen würden, starten wir in
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Comacchio und seiner außergewöhnlichen Trepponti-Brücke, die 1638 Kardinal Pallotta als Zeichen der Papstherrschaft und des Aufschwungs der Stadt erbauen ließ. Comacchio ist von einem Netz von Kanälen durchzogen und Hauptstadt des Wasserbezirks der Provinz Ferrara. Comacchio hat, wie auch Venedig, seine eigene Lagune, die
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Valli, in der sich unter der Wasseroberfläche Aale und darüber Flamingos tummeln. Das aufregende Farbenspiel der Valli ist nur ein Vorgeschmack auf das, was man entdecken kann, wenn man sich mit dem Fahrrad in die Landschaft an der Grenze zwischen Wasser und Land des
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Po-Deltas vorwagt. Wer glaubt, das Delta sei nur ein Netz aus Flussarmen, die sich wie Schlangen durch Laubund Pinienwälder schlängeln, der irrt sich. Neben dieser erstaunlichen Umgebung, die größtenteils weiter nördlich in der Provinz Rovigo liegt, umfasst das Deltagebiet auch Urwälder, in denen die letzten Populationen des italienischen Rothirschs oder Dünenhirschs leben. Dies ist der Fall beim
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Boscone della Mesola, dem Lebensraum des großen Säugetiers, der früher wahrscheinlich eine beliebte Beute der Herzöge von Este war, die hier das
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Mesola Castle errichteten. Dieses war zunächst eine Festung, dann ein Jagdschloss. Diejenigen, die sich für die einheimischen Hirsche in dieser Gegend begeistern konnten (sollten bei einer geführten Wanderung im Wald keine Hirsche zu sehen sein, begnügen wir uns mit dem Museum im Schloss), werden in den
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Dune Fossili di Massenzatica noch mehr auf ihre Kosten kommen. Sie zeichnen den urzeitlichen Küstenverlauf nach und können auf dem Weg zur herrlichen
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Abbazia di Pomposa besichtigt werden, einem Benediktinerkomplex aus dem 9. Jh., in dem viele wichtige geschichtsträchtige Persönlichkeiten übernachteten, darunter der Dichter Dante Alighieri auf seinem Rückweg von Venedig nach Ravenna.
sito UNESCO nr. 13 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen, um in die Stadt der Renaissance einzutauchen.

  • Der rasende Roland Ludovico Ariosto (1516). Das Urbild der abenteuerlichen Erzählung, handelt vom Krieg zwischen Franken und Sarazenen, von seinem Liebeswahn zu Angelika und von der Entstehungsgeschichte des Hauses der Herrscherfamilie Este.
  • Childe Harold’s Pilgrimage, George Gordon Byron (1812). Im 4. Gesang beschreibt Lord Byron seine Reisen durch Italien und reflektiert über seine eigene Vergangenheit und seine Erfahrungen, die er mit Bemerkungen zu Gesellschaft und Geschichte verknüpft.
  • Rime e ritmi, Giosuè Carducci (1899). Alla città di Ferrara ist der Titel eines der Gedichte in der Sammlung Rime e ritmi, in dem Carducci in gehobener Sprache den städtebaulichen und architektonischen Wert der „Stadt der Renaissance“ hervorhebt.
  • Elettra Gabriele d’Annunzio (1903). Ferrara erscheint in der Gedichtserie Le città del silenzio im zweiten Buch der Laudi. Die von Nationalsinn geprägten Verse spiegeln die Denkmalqualität und die Atmosphäre der Stadt wider.
  • Die Gärten der Finzi-Contini, Giorgio Bassani (1963). Der Garten existiert in der Realität nicht, könnte aber einer der vielen Gärten sein, die sich hinter den Mauern Ferraras verbergen. Vor diesem Hintergrund spielt sich das Leben der jüdischen Familie Finzi-Contini und die Geschichte des Hauptdarstellers ab, der in Micol verliebt ist, während die Rassengesetze eingeführt und die Juden durch die Nazis verfolgt werden.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • Anita e Nico. Dal Delta del Po alle foreste casentinesi, Linda Maggiori (2014). Im ersten Teil dieser imaginären Fahrradreise durchqueren die beiden Jungen das Po-Delta und treffen dabei auf viele tierische und menschliche Charaktere, die ihnen bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten helfen.
  • Una luce nel buio, Alessandra Parmiani, Francesco Corli (2018). Aus den Nebeln von Comacchio beginnt Sante, der als Fischer aufgewachsen ist, eine verträumte Reise durch die Gewässer der Stadt und folgt einem Licht, das unter der Oberfläche durchscheint.
  • Dante Alighieri. Superbo, ambizioso, sprezzante, Paola Cantatore, Alessandro Vincenzi (2021). Eine amüsante Beschreibung von Dantes Leben, die alle wichtigen historisch belegten Momente unter Bezugnahme auf das aktuelle, die Kinder betreffende Zeitgeschehen wiedergibt.
  • Francesco e Marcella alla scoperta delle stagioni nel Delta del Po, Silvia Valentina Pasini Ferrari (2023). Es handelt sich um die Geschichte der Freundschaft zwischen Marcella und Francesco, der vor kurzem in eine kleine Stadt am Po-Delta gezogen ist und starkes Heimweh hat. Marcella kann Francesco Sehnsucht und Traurigkeit verschwinden lassen, indem sie mit ihm die Natur und ihre Jahreszeiten entdeckt.
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