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KARST UND HÖHLEN IN DEN EVAPORITEN DES NÖRDLICHEN APENNINS

icona patrimonio sito UNESCO
SERIELLES WELTNATURERBE
DOSSIER UNESCO: 1692
VERLEIHUNGSSTADT: RIAD, SAUDI-ARABIEN
VERLEIHUNGSJAHR: 2023
BEGRÜNDUNG: Dank des besonderen geologischen und klimatischen Kontextes und der Konzentration von Karst, Höhlen, Sole-, Mineralquellen, Speläothemen und fossilen Überresten stellt diese serielle Stätte ein einzigartiges Zeugnis für geologische Prozesse dar, die die Erdkruste formen.

„Gräbt man hier ein paar hundert Ellen tief in
den Boden, so findet man nichts Weiteres als eine
Salzschicht, wie überall in den Terrefonde. [...] Für die
Geologen war dies einer der ersten Hinweise darauf,
dass die Terrefonde früher ein Meer
waren.”

Down in the Bottomlands, Harry Turtledove

Von der Umlaufbahn einer Raumstation aus ist das Mittelmeer eigentlich sofort zu erkennen. Würde man allerdings 5 Millionen Jahre zurück in die Vergangenheit in das Zeitalter des Messiniums katapultiert werden, so wäre diese Landschaft nicht wiederzuerkennen: Die Küstenlinien sind verschwunden, und eine riesige trockene Ebene ist an Stelle des Mittelmeers zu sehen. Mit der Schließung der Straße von Gibraltar verdunstete das Mittelmeer. An den tieferen Stellen wurden die verbleibenden Becken noch mit dem vom Festland herunterfließenden Flusswasser gespeist, doch die Verdunstung schritt so schnell voran, das sich immer mehr Salzverkrustungen bildeten. Zyklische Austrocknungs- und Überschwemmungsphasen führten zu Ablagerungen von meterdicken Mineralsalzen, darunter auch Gips. Nachdem sich die Straße von Gibraltar öffnete, wurde das Mittelmeer wieder zum Meer im wahrsten Sinne des Wortes. Durch die tektonische Verschiebungen wurde der Boden angehoben, wodurch der Apennin entstand. In den Provinzen Reggio Emilia, Bologna, Ravenna und Rimini kam es aufgrund besonderer klimatischer und geomorphologischer Gegebenheiten zur Konservierung der aus jener Zeit stammenden geologischen Schichten: die berühmte Gipsader der Emilia-Romagna. Dieses serielle Welterbe schützt die geologische Landschaft der Evaporiten im nördlichen Apennin. Gleichzeitig ist es Zeuge für ein wichtiges Kapitel in der geologischen Geschichte unseres Planeten Erde.

NICHT ZU VERPASSEN

„Geht nach San Leo, steigt nach Noli nieder, auf eignen Füßen; doch hier gilt‘s zu fliegen.“

Wie Dante Alighieri, der diese Gegend als Modell für den unwegsamen Aufstieg zum Fegefeuer nahm, führt unsere Route durch die Landschaft und Geschichte des Montefeltro und gewährt Einblicke in dessen Geologie.
Google Maps
Wir starten in
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Verucchio, der Wiege der Malatesta-Dynastie. Ihre mittelalterliche Burg Rocca Maltestiana aus dem 14. Jh. thront über der Stadt und über der zerklüfteten, vom Fluss Marecchia durchzogenen Hügellandschaft. Ebenfalls auf Felsausläufern befinden sich ganz in der Nähe weitere zwei Festungen, nämlich
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Poggio Torriana im Osten und Rocca dei Guidi di Bagno in
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Montebello. Wir gehen über eine Erdkruste, die stolz die „Wunden“ der Vergangenheit zeigt, und kommen in das winzige
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Tausano. Die Morphologie der Kreide kann man am besten bei einer Wanderung (CAI Nr. 95) entlang des Begirgskamms der Monti Tausani sehen. Auf einer solchen Wanderung sieht man genau die Landschaften, die Piero della Francesca malte. Alternativ dazu kann man auch mit dem Auto über die Via Tausano fahren, die weiter südlich in die Provinzstraße SP22 mündet. In beiden Fällen sind die Hauptgipfel der Marecchia-Kreidehügel vom Weg aus gut sichtbar: Monte Gregorio, Penna del Gesso und Monte San Severino. In Richtung Süden kann man das auf das 13. Jh. zurückgehende, im Grünen eingebettete
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Kloster Sant’Igne sehen. Nur wenige Kilometer entfernt wird die bewaldete „Epidermis“ der Hügel durch den Felsblock
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San Leo durchbrochen, von dessen Gipfel aus die strenge Festung über den Montefeltro wacht. Das Dorf, das sich am Fuße dieses Felsens befindet, ist eines der am besten erhaltenen mittelalterlichen Schmuckstücke der Region. Sehenswert sind hier in erster Linie der Dom von San Leo und Pieve di Santa Maria Assunta sowie der Torre Civica. In einer knappen Stunde erreicht man durch die Kurven der Montefeltro-Landschaft und mit einem Abstecher in die Marken die Grenzen der Riserva Orientata di Onferno. Vom Tourismuszentrum in Castello di Onfaro ist es möglich, über einen „höllischen“ Abstieg auf den Spuren Dantes zu den
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Onferno-Grotten zu gelangen, die zu den wichtigsten Gipshöhlen Italiens gehören, welche über Jahrtausende durch das Wasser geformt wurden. Heute lebt dort die zahlenmäßig größte Fledermauskolonie der Region.

„Ein heftiges Gefühl, einen Knoten in der Kehle, empfindet der Reisende, wenn er [...] zum ersten Mal am Himmel den riesigen Felsamboss sieht, mit seiner kantigen Seite und der flachen, schrägen Spitze, wie ein Flugzeugträger, der inmitten der Berge gefangen und gekippt ist [...]. Der Betrachter ist bewegt und gerade deshalb scheint ihm der Atem zu stocken: denn Bismantova, eine geologische Laune, für den Kosmos zwar klein, doch im Verhältnis zum Menschen riesig, erinnert den Betrachter auf obskure Weise an das Elend und die Zerbrechlichkeit unseres Schicksals...“

Viaggio in Emilia Romagna, Mario Soldati

Wie der große Felsblock der Ureinwohner von Ayers Rock von einer sakralen Aura umgeben, ähnelt die Pietra di Bismantova dem Zyklopenfelsen, einem Biocalcarenit, an dem die Wellen des Hügelmeeres von Reggio Emilia brechen. Auf seinem über 1.000 m hohen Gipfel befindet sich eine etwa 1 km lange, mit Gras bewachsene Ebene, die über zahlreiche Wege erreicht werden kann. Die Wege beginnen am Fuße der Felsformation. Dante stützt sich bei seiner Beschreibung des Aufstiegs zum Berg des Fegefeuers auf die Pietra di Bismantova und San Leo

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Die italienischen UNESCO-Welterbestätten erzählen ihre Geschichte durch die Worte großer Schriftsteller, die ihre Geschichte und Schönheit gefeiert haben

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FÜR DIE JÜNGSTEN

„IN BRISIGHELLA STEHEN DREI SCHLÖSSER, / SIE SIND SCHÖN, ES SIND JUWELEN, / WENN MAN SIE SIEHT, SEHEN SIE AUS WIE DREI, / WENN MAN SIE ABER ZÄHLT, GIBT ES KEINE MEHR... / WENN MAN SIE ABER ZÄHLT, GIBT ES KEINE MEHR...!“
attività per bambini del sito UNESCO nr. 59
So beginnt das Lied The Castles of Brisighella von Sandro Tuminelli, dass beim 20. Zecchino dʼOro von Salvatore Antonio Folino gesungen wurde. Die „Burgen“, die er besingt, sind die drei Felsspitzen, auf denen sich Brisighella erhebt und deren mittelalterliche Atmosphäre Brisighella zu einem geschichtsträchtigen Ort macht. Diese im Dorf beginnende Route, die durch den Regionalpark der romagnolischen Gipsader führt, folgt der Geschichte eines Minerals, das viel mehr als ein Zeichen auf einer Schultafel ist. Man lernt Brisighella am besten kennen, wenn man durch die vollständig überdachte und erhöhte Straße
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Via del Borgo geht, die mit Arkaden und einer Holzdecke versehen ist. Auf dieser Straße transportierten die Einwohner von Brisighella den in den nahegelegenen Höhlen abgebauten Gips. Es ist kein Zufall, dass die Straße auch unter dem Namen Via degli Asini (Eselstraße) bekannt ist. Bereits während des Mittelalters kam Brisighella dank des Handels mit dem wertvollen Mineral zu Wohlstand. Nur wenige Fußminuten entfernt befindet sich der Turm
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Torre dell’Orologio, der auf einem Felsausläufer über dem Dorf thront und von dem man atemberaubende Ausblicke auf die Landschaft hat. Wenn wir in Richtung Osten in den Panoramaweg einbiegen, kommen wir zu den mächtigen Türmen der Festung
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Rocca Manfrediana, die, wie der Name schon sagt, der Herrschaftssitz der Familie Manfredi war und später an die Venezianer überging. In der Festung ist das Museo dell’Uomo e del Gesso untergebracht, in dem die lange Geschichte des Minerals, dem Symbol dieses Gebietes, das seit der Frühgeschichte besiedelt ist, behandelt wird. Eine der faszinierendsten Geschichten ist die des lapis specularis, eine besondere Art von Gips mit großen, durchsichtigen Kristallen, der leicht abblätterte und im Rom der Antike für Fenster eingesetzt wurde. Über die Via Rontana, die sich in unmittelbarer Nähe zur Festung befindet, ist es möglich, die natürlichen Gipsvorkommen im
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Parco Museo Geologico Cava di Monticino aus der Nähe zu sehen. Die Route unter freiem Himmel ermöglicht es, die Geschichte der Gipsader in den letzten 15 Millionen Jahren zurückzuverfolgen und die fossile (restaurierte) Fauna kennenzulernen, die in den größten Felsformationen gefunden wurde. Einige Kilometer weiter erreichen wir zwischen den Hügeln das Turistenzentrum
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Centro Visite Rifugio Ca’ Carnè, wo es möglich ist, Höhlenführungen durch die Tanaccia-Höhle zu buchen. Von hier geht es auch zum Weg Sentiero degli Abissi, der in den Park Parco della Vena del Gesso führt. Hier ist es möglich, in Dolinen, Karstbrunnen, Grotten und Kluften die faszinierendsten Formen des Karsts zu finden.
sito UNESCO nr. 59 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen zu den Landschaften des nördlichen Apennins.

  • Göttliche Komödie, Dante Alighieri (1314–21). In seinem großen literarischen Meisterwerk trägt Dante nicht nur die italienische Sprache zur Taufe, sondern die literarische Vorstellung von Gebieten in einem noch nicht entstandenen Land. Dank der tiefgreifenden Kenntnisse über den Apennin kann der Dichter auf einen ganzen Fundus an Bildern zurückgreifen, die er in seinem Werk verarbeitet.
  • Der Sohn des Kardinals, Ethel Lilian Voynich (1897). Das Epos des Risorgimento wird in einem Roman erzählt, der sich merkwürdigerweise in der angelsächsischen Welt und im ehemaligen Sowjetblock großer Beliebtheit erfreute, während er in dem Land, in dem er spielt, praktisch unbekannt blieb. Im Mittelpunkt steht die existenzielle Krise von Arthur Burton, einem leidenschaftlichen byronischen Helden, der zum stacheligen Falter der Macht wird, bis hin zu einem dramatischen Finale in den Mauern der Festung von Brisighella.
  • Down in the Bottomlands, Harry Turtledove (1993). Dieser uchronische Roman spielt in einem Europa, in dem sich die Straße von Gibraltar nie geöffnet hat und das Mittelmeer immer die trockene und wilde Senke blieb, die es im Zeitalter des Messiniums bereits war. Die fiktiven Nationen dieser Welt ohne Meer befinden sich in einem prekären geopolitischen Gleichgewicht, während sich für den Neandertaler Radnal und sein Volk eine Katastrophe anbahnt.
  • Dove il vento si ferma a mangiare le pere, Mario Ferraguti (2010). Dies ist eine Geschichte auf der Suche nach Geschichten, die die Hauptfigur am Geburtsort ihres Vaters wiederentdeckt. Es ist ein Roman über wiederentdeckte Erzählungen, mündliche Überlieferungen und Legenden über reale und imaginäre Wesen, welche die Kultur der Bewohner des „Hochlands“ der Emilia prägen.
  • Viaggio in Emilia Romagna, Mario Soldati (2020). Seine stets präzisen Visionen des Landes Italien erkunden die Landschaft und die menschliche Vielfalt der Region Emilia-Romagna und erwecken Seiten zum Leben, auf denen die Wahrheit der anthropologischen „Aufzeichnung“ mit lebendiger Poesie verschönert wird.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • Una terra fantastica, Francesco Rivola, Veronica Chiarini (2021). Die geologischen Besonderheiten und Landschaften der Kreidezeit der Romagna strahlen einen Hauch von Zauber und Legenden aus. Das Buch, das sich auf Erzählungen von Volkskultur und Naturwundern stützt, ist ein Leitfaden für Natur und Legenden dieses magischen Gebiets.
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