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PRÄHISTORISCHE PFAHLBAUTEN UM DIE ALPEN

icona patrimonio sito UNESCO
SERIELLES UND TRANSNATIONALES WELTKULTURERBE
DOSSIER UNESCO: 1363
VERLEIHUNGSSTADT: PARIS, FRANKREICH
VERLEIHUNGSJAHR: 2011
BEGRÜNDUNG: Die Pfahlbaudörfer in den Alpen sind eine der wichtigsten archäologischen Quellen für das Studium der frühen Agrargesellschaften in Europa zwischen 5000 und 500 v. Chr. Die feuchten Lagerungsbedingungen ermöglichten das Überleben organischer Materialien, die zum Verständnis der bedeutenden Veränderungen während des Neolithikums und der Bronzezeit in Europa im Allgemeinen und der Interaktionen zwischen menschlichen Gruppen in den Regionen um die Alpen im Besonderen beitragen.

„Im See [...] ragte eine kleine Insel aus dem Wasser;
und auf dieser kleinen Kieszunge, gestützt von großen
Holzpfählen [...], hatten die Männer dieses Stammes
ihr Dorf errichtet [...]. Etwa zwanzig hölzerne und
strohgedeckte Hütten bildeten den zentralen Kern
der Siedlung auf der Insel. [...] Weitere zehn oder
zwölf Hütten [...] hingen ein Klafter über dem Wasser,
gestützt von in den Boden gerammten Pfählen, die
durch hölzerne Stege miteinander verbunden waren.“

Il villaggio sul lago, Racconti, Mauro Neri

Die Pfahlbauten in den Alpen sind an feuchte Umgebungen gebunden: Flüsse, Seen und Teiche, von denen viele heute ausgetrocknet oder zu Torfmooren geworden sind. Dem Wasser und insbesondere den anaeroben Eigenschaften von Schlamm und Torf, die eine Vermehrung von Bakterien nicht zulassen, ist es zu verdanken, dass die Stätten außerordentlich gut erhalten geblieben sind und den Archäologen nicht nur das Dickicht der Pfähle, sondern auch eine große Menge organischer Funde hinterlassen haben: für die Menschen, die dort lebten, Müll, für uns eine außergewöhnliche Quelle von Informationen über das tägliche Leben des Dorfes und das Netz sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen, das es mit anderen verband. Diese alles andere als primitiven Gemeinschaften waren in der Lage, technische Lösungen für komplexe Probleme zu finden, wie z. B. das Aufstellen eines mehrere Meter hohen Pfahls im weichen, elastischen Boden eines Wasserbeckens. Die UNESCO-Stätte ist transnational und umfasst 111 Dörfer in der Schweiz, in Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Slowenien. Die 19 italienischen Dörfer liegen am Gardasee, am Varese-See und in anderen Gebieten in der Lombardei, in Venetien, im Piemont, in Friaul-Julisch-Venetien und in Trentino-Südtirol.

NICHT ZU VERPASSEN

„Die Wellen des kleinen Sees plätscherten eintönig gegen den Steinstrand und stießen an die Pfähle, die die über dem Wasser schwebenden Hütten des Dorfes stützten. Bacmor, der auf dem Rand der hölzernen Plattform saß, berührte mit seinen Füßen kaum die kräuselnden Wellen unter ihm. [...] Und schließlich konnte er im schillernden Widerschein der letzten Sonnenstrahlen auf dem Spiegel des Sees ein Kanu erkennen, das ihm entgegenkam. Die Fischer kehrten mit einer guten Ausbeute heim.“

Das Incipit von Mauro Neris Roman Il destino di Bacmor beschreibt sehr schön die Stille, die noch immer über dem wunderschönen Ledrosee in der Provinz Trient herrscht.
Google Maps
Der
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Ledrosee ist für Motorboote gesperrt, fern von den begangenen Routen ist er die Herrschaft von Kanus, SUPs und Schwimmern, die von der Mitte des Sees aus den Blick auf die umliegenden Berge mit ihren Wäldern und Kühen genießen. Am Ufer befindet sich das kleine, aber außergewöhnliche
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Museum der Pfahlbauten, in dem wichtige, im Schlamm erhaltene Artefakte wie Stoffe, Bronzegegenstände, Waffen und Fibeln ausgestellt sind. Die Überreste der Pfahlbauten von Ledro kamen 1929 bei den Bauarbeiten für das Wasserkraftwerk von Riva del Garda ans Licht. Auch am Südufer des Sees wurde eine Fläche von mehr als 10.000 Pfählen freigelegt, die beweist, dass hier eine echte Stadt auf dem Wasser existierte, die größte Italiens. Neben der Ausstellung ist eine Rekonstruktion von vier komplett eingerichteten Hütten zu sehen. Etwa dreißig Kilometer nördlich von Ledro stößt man auf eine große Lichtung, auf der schon von weitem andere Pfahlbauten zu sehen sind. Es handelt sich um die
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archäologische Fundstätte von Fiavé, die sich um einen alten Teich herum entwickelte, der heute zu einem Torfmoor geworden ist. Wie viele andere Pfahlbauten wurde sie Mitte des 19. Jhs. im Zuge des Abbaus von Torf entdeckt, der damals als Brennmaterial verwendet wurde. Das Dorf ist sehr alt und wurde bereits im 7. Jh. v. Chr. mit saisonalen Lagern besiedelt. Die ersten standsicheren Hütten wurden jedoch erst 3.000 Jahre später, in der Jungsteinzeit, errichtet, und der Ort war bis zur Bronzezeit bewohnt. Der archäologische Standort von Fiavé ist mit seinen Holzstegen und fünf rekonstruierten Pfahlbauten, in denen bei schönem Wetter verschiedene Workshops für Kinder organisiert werden, sehr angenehm zu besichtigen. Sehr interessant ist auch das
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Pfahlbaumuseum von Fiavé, in dem eine Auswahl von Funden ausgestellt ist, darunter Gegenstände, die absichtlich oder versehentlich ins Wasser geworfen wurden: zerbrochene Tassen und Schalen, aber auch Schmuck aus Bronze, Bernstein und Gold, Sicheln, Bögen und Pfeile. Eine ganze Etage ist der Rekonstruktion des täglichen Lebens in den Pfahlbauten gewidmet.

„Die Zwischenräume dieses Bauzauns [...]
füllten die Bewohner jener Epoche mit
verschiedenen Materialien, Abfällen und
kaputten oder funktionierende Küchen- und
anderen Utensilien, die die Häuser und die
angrenzenden Bereiche überfüllten. Mit der
Zeit bildete sich ein fester Damm, der das
Hochwasser eindämmte.“

Le palafitte nel cassetto dei ricordi 1929-2009,
Hrsg. Alessandro Fedrigotti

Die Pfahlbauten liefern erstaunlich viel archäologisches Material, wenn man bedenkt, dass die ältesten auf 5.000 v. Chr. zurückgehen. Der Erhaltungszustand der Holzbalken, die das Gerüst der Dörfer bilden, ist so gut, dass man bei Ausgrabungen manchmal fast intakte Türen, Schlösser und sogar Reste von Behausungen findet, die eingestürzt und von den feuchten Schichten versiegelt sind. Es ist der Feuchtigkeit zu verdanken, dass organisches Material über die Jahrtausende hinweg erhalten blieb, und in der Tat müssen Archäologen bei Ausgrabungen äußerst vorsichtig sein, denn der Abbauprozess beginnt, wenn das Stück aus seiner Umgebung entfernt wird. Um den Hydratationsgrad aufrechtzuerhalten, werden die Stücke zunächst zusammen mit dem Wasser in Säcken versiegelt, dann in Tanks oder Kühlräume gebracht und im Labor in eine Polyethylenglykollösung getaucht, die das Wasser in der Zellstruktur des eingeweichten Holzes ersetzt und durch die Verfestigung beim Trocknen in Gefriertrocknungsanlagen verhindert, dass sich die Holzfasern verformen und Risse bekommen. Zur Erhaltung dieser zerbrechlichen und wertvollen Funde hat das Amt für archäologisches Kulturgut der Lombardei vor 20 Jahren das Zentrum für die Behandlung von nassem Holz eingerichtet.

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FÜR DIE JÜNGSTEN

„ICH LEBE AUF EINEM PFAHLBAU MIT MEINEN ELTERN TÙ UND TÀ, GROSSVATER GÙ UND GROSSMUTTER GÀ. WIR SIND DIE LEUTE VOM SEE. DIE PFAHLBAUTEN SIND EIN HAUS AM WASSER MIT ALLEM KOMFORT DER MODERNEN ZEIT. DAS LICHT DER SONNE ERHELLT UNS AM TAG UND DAS LICHT DES MONDES IN DER NACHT [...]. WIE IN ALLEN MODERNEN HÄUSERN HABEN WIR WASSER PRAKTISCH UNTER DEM HAUS. DAS HEISST, WENN MAMA SAGT ‚WASCH DICH‘ UND ICH NICHT AUF SIE HÖRE, GIBT SIE MIR NUR EINEN KLEINEN SCHUBS, UM MICH ZU ERMUTIGEN, UND SCHWUPPS BIN ICH UNTEN.“
attività per bambini del sito UNESCO nr. 47
In Cosetta Zanottis Tipù delle palafitte lebt Tipù mit ihrer Familie in einem Pfahlbaudorf am Ufer eines Sees: Versucht, Euch diese prähistorischen Kinder vorzustellen, die beim Springen von Plattformen gegeneinander antraten oder im Wald spielten. Die kleinen Seen, an deren Ufern die Pfahlbauten errichtet wurden, sind im Laufe der Jahrtausende größtenteils ausgetrocknet, während die großen Seen, wie z. B. der Gardasee, immer noch da sind und die Kinder von heute wie in der Bronzezeit Spaß haben. Beginnt Ihr den Besuch im
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Archäologischen Museum Rambotti in Desenzano del Garda, das Funde aus dem Pfahlbaudorf Lavagnone beherbergt, wo 1977 der außergewöhnliche Fund eines Holzpfluges gemacht wurde. Das Werkzeug wurde in den ältesten Schichten des Pfahlbaus gefunden und dank der Dendrochronologie, der Lehre vom Baumaltern, auf das Jahr 2067 v. Chr. datiert. Interessant ist, dass auf den Felsblöcken des archäologischen Parks der Felsenkunst im Valcamonica, der ebenfalls zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, antike Abbildungen von Pflügen gefunden wurden, die mit denen in Lavagnone identisch sind. Das Museum Rambotti organisiert Workshops und pädagogische Führungen für Jugendliche. Am Ende Eures Besuchs könnt Ihr durch die engen Gassen von Desenzano schlendern und vielleicht sogar ein Bad im See nehmen, wenn es die richtige Jahreszeit ist. Dann fahrt Ihr nach Gavardo, um das
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Archäologische Museum Valle Sabbia zu besuchen, das die Funde aus der Ausgrabung des Pfahlbaudorfs Lucone aufbewahrt und viele experimentelle ArchäologieWorkshops organisiert, in denen man zum Beispiel lernen kann, wie man Feuerstein bearbeitet, ein Stein, der in prähistorischer Zeit zur Herstellung scharfer Klingen verwendet wurde. Nach dem Besuch geht es weiter zu den wunderschönen Moränenhügeln des Gardasees, wo sich die beiden Pfahlbaudörfer
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Lavagnone und
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Lucone befinden. Beide sind offen und können während der Ausgrabungskampagnen besichtigt werden, was den von Archäologen geführten Besuch ausgesprochen spannend macht.
sito UNESCO nr. 47 in Italia
LESEEMPFEHLUNGEN

Buchempfehlungen, um die Pfahlbauten um die Alpen zu erkunden.

  • Il destino di Bacmor, Mauro Neri (1985). In der jüngeren Bronzezeit (vor 3.200 Jahren) wird der junge Bacmor, der in das Pfahlbaudorf Ledro kommt, in ein unheimliches Ereignis verwickelt, das sich in dieser Gemeinschaft ereignet hat.
  • Racconti, Mauro Neri. Fünf Kurzgeschichten, die im Pfahlbaudorf Fiavé spielen. Die Geschichten sind auch in dem von Mauro Neri verfassten und von Pierluigi Negriolli illustrierten Band Racconti di archeologia trentina (2005) veröffentlicht.
  • Le palafitte nel cassetto dei ricordi 1929-2009: 80 anni di archeologia a Ledro, Hrsg. Alessandro Fedrigotti (2010). Herausgegeben vom MUSE – Naturwissenschaftliches Museum von Trient Valle di Ledro – enthält es den Bericht von Francesco Zecchini (1943).
  • I ragazzi delle palafitte, Renzo Mosca (2018). In diesem Roman wird das Leben der Pfahlbaugemeinschaft von Ledro geschildert. Die Protagonistin ist Dana, die Tochter des Dorfvorstehers, die von einer schwarzen Wölfin begleitet wird, die das Mädchen gezähmt hat
  • Quando a Fiavé c’era un lago, Donato Riccadonna (2018). Es ist die Geschichte der Ausgrabung der Pfahlbauten am Fiavé-See, die im 19. Jh. bei Grabungen zur Gewinnung von Torf entdeckt wurden, der damals als Brennstoff diente.
  • Gando il cestaio e Arcto l’ubriacone. Una storia dell’età del Bronzo a Fiavé, Giuliana Borghesani (2023). Sie erzählt die historischen Ereignisse, die sich am archäologischen Standort von Fiavé-Carera abgespielt haben.

Kinder- und Jugendliteratur:

  • La prova di Keira, Giorgia Cappelletti (2014). Eine Erzählung von den archäologischen Ereignissen des Dorfes Molina di Ledro, dessen Ausgrabungen Beweise für Brände, Zerstörung und Wiederaufbau, Keramikfunde, Waffen, Spinn- und Webwerkzeuge, Schmuck und ein aus dem Stamm eines Baumes geschnitztes Kanu ans Licht gebracht haben.
  • Tipù delle palafitte, Cosetta Zanotti (2021). Tipù, die kleine Bewohnerin eines Pfahlbaudorfes, muss aufgrund einer Reihe unglücklicher Ereignisse in die Berge zum Dorf der Zeichenmänner vordringen und sich den Gefahren des Waldes stellen. Die Lehren ihrer Großeltern und die Stimme der Bäume helfen ihr dabei.
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